Wenn von Wikingerschiffen die Rede ist, denken viele zuerst an schlanke, mit Drachenköpfen verzierte Langschiffe – Sinnbilder für Raubzüge und Kriegsfahrten. Doch abseits von Ruhm und Schlachtlärm besaßen die Wikinger eine ebenso beeindruckende, aber weniger bekannte Schiffsklasse: die Handelsschiffe, die das wirtschaftliche Rückgrat der nordischen Gesellschaft bildeten. Ohne sie wären weder der überregionale Handel noch der kulturelle Austausch möglich gewesen, der die Wikingerzeit so stark prägte.
Der Knorr – das Handelsschiff der Wikingerzeit
Das wichtigste Handelsschiff der Wikinger war der Knorr (altnordisch knǫrr). Im Gegensatz zu den langen und schmalen Kriegsschiffen war der Knorr kurz, breit und tief gebaut. Diese Form verlieh ihm Stabilität auf offener See und schuf Platz für große Mengen an Fracht. Typischerweise war ein Knorr zwischen 15 und 24 Meter lang und bis zu fünf Meter breit. Der Rumpf war rundlich, mit tiefem Kiel, sodass das Schiff nicht kippte, selbst wenn es schwer beladen war.
Statt auf Geschwindigkeit setzte der Knorr auf Tragfähigkeit. Bis zu 30 Tonnen Ladung konnten transportiert werden – darunter Fässer mit Honig oder Bier, Ballen mit Pelzen, Eisen, Elfenbein, Glaswaren oder sogar Tiere. Die Besatzung war klein: oft nicht mehr als zehn bis fünfzehn Männer, denn das Schiff wurde fast ausschließlich mit einem großen Segel betrieben. Ruder kamen nur beim An- und Ablegen zum Einsatz.
Bauweise und Materialien
Wie die meisten Wikingerschiffe wurde auch der Knorr in Klinkerbauweise gefertigt. Dabei wurden die Holzplanken überlappend miteinander vernietet – eine Technik, die den Schiffen Flexibilität im Wellengang verlieh und sie gleichzeitig erstaunlich leicht machte. Für den Rumpf wurde meist Eichenholz verwendet, während Masten und Decks häufig aus Kiefer oder Esche bestanden. Das große Rahsegel war aus dichter Wollstoff, der mit Tierfett oder Teer wasserdicht gemacht wurde.
Der Steuermechanismus bestand aus einem seitlich angebrachten Ruder am Heck – dem sogenannten Steuerbord, das dem heutigen Begriff seinen Namen gab. Gelenkt wurde mit einem einfachen Hebelmechanismus, der jedoch auf hoher See sehr effektiv war.
Ladung und Organisation an Bord
Die Fracht wurde mittig im Schiffsrumpf verstaut, oft in Fässern oder Körben. Die Mannschaft lebte und schlief am Rand des Schiffs oder unter provisorischen Zelten aus Segeltuch. Für längere Fahrten wurden einfache Kochstellen eingerichtet, und Trinkwasser wurde in Tierhäuten mitgeführt.
Besonders wichtig war die richtige Verteilung der Ladung, um die Stabilität zu wahren. Auch Ersatzmaterialien wie Taue, Harz oder Werkzeuge für Reparaturen waren an Bord der Wikinger Handelsschiffe. In manchen Fällen wurden auch Tiere, Sklaven oder Passagiere mitgenommen, wenn sich der Knorr als Transportschiff eignete.
Seetauglichkeit und Navigation
Die Handelsschiffe der Wikinger waren erstaunlich hochseetauglich. Dank ihrer robusten Bauweise und der flexiblen Plankenkonstruktion konnten sie selbst stürmisches Wetter auf der Nord- oder Ostsee meistern. Bei günstigen Windverhältnissen schaffte ein Knorr etwa fünf bis sieben Knoten – rund neun bis dreizehn Kilometer pro Stunde.
Zur Navigation Ihrer Handelsschiffe nutzten die Wikinger Himmelsbeobachtung, Landmarken und Strömungen. Es gibt Hinweise darauf, dass sie sogenannte Sonnensteine verwendeten – durchsichtige Kristalle, mit denen sich auch bei bewölktem Himmel die Richtung der Sonne bestimmen ließ. Sonnenkompasse, geschnitzte Holzscheiben mit Schattenmarkierungen, könnten ebenfalls genutzt worden sein, auch wenn die Quellenlage hierzu nicht eindeutig ist.
Archäologische Funde
Mehrere bedeutende Schiffswracks geben uns heute ein genaues Bild von Wikingerschiffen. Besonders bekannt ist das Wrack Skuldelev 1, das in Dänemark gefunden wurde und als typischer Knorr identifiziert werden konnte. Es war etwa 16,5 Meter lang, 4,5 Meter breit und bot Platz für rund 24 Tonnen Fracht – damit entsprach es exakt den Beschreibungen altnordischer Quellen.
Solche Funde erlauben heute den originalgetreuen Nachbau dieser Handelsschiffe, etwa für Museen oder Experimentalarchäologie. Rekonstruktionen wie das Schiff Ottar, ein Nachbau von Skuldelev 1, haben bewiesen, dass solche Schiffe tatsächlich hochseetauglich waren und sogar den Atlantik überqueren konnten – was die Fahrten der Wikinger nach Island, Grönland und Vinland nachvollziehbar macht.
Zusammenfassung
Die Wikinger Handelsschiffe waren technische Meisterwerke ihrer Zeit – schlicht, funktional, aber äußerst effektiv. Sie ermöglichten nicht nur den Warentransport über tausende Kilometer, sondern auch kulturellen Austausch, Expansion und wirtschaftliche Blüte.
Der Knorr ist bis heute Sinnbild für die stille, aber fundamentale Seite der Wikingerkultur: nicht das Schwert, sondern das Segel – nicht der Überfall, sondern der Handel. Ohne diese Schiffe hätte das skandinavische Weltbild des Frühmittelalters nie so weite Kreise gezogen.